Die letzten Sonnenstrahlen dieses heißen Julitages prallen in bunten Farben auf die weiße Wand meines Schlafzimmers. Ein Farbspiel, das mich an die Kaleidoskope der 90er erinnert. Noch nie zuvor habe ich die damalige Zeit so sehr vermisst wie dieser Tage. Die Welt von heute wirkt mehr denn je wie ein einziges, trauriges Schauspiel. So ziemlich alles was wir heute konsumieren wird inzwischen von KI Inhalten geflutet und von Algorithmen ausgespielt, die unsere Vorlieben besser kennen als unsere engsten Freunde. Authentizität verkommt im Dopaminrausch der Gegenwart zum Relikt längst vergangener Tage. Die ganze Welt starrt auf Handys, Tablets und Konsolen – oder versinkt in der nächsten von Millionen Netflix-Serien.
Der Charme der 90er löst in mir eine Sehnsucht nach mehr Realität und weniger Konsum aus. Ein CD Cover war ein Kunstwerk, ein Mixtape kam von Herzen und ein Ausflug ins Kino war etwas Besonderes. Wir waren jeden Tag draußen und liefen stundenlang Fuß- oder Tennisbällen hinterher. Wir kamen heim wenn es dunkel wurde und spielten gemeinsam Brett- oder Kartenspiele. Im Sommer gab es keinen Pool, sondern den Rasensprenger. Im Winter wurde gerodelt, Bob gefahren oder ein Iglu gebaut – mit bloßen Händen und leuchtenden Augen. Alles war echt, unverstellt, und jeder Tag ein kleines Abenteuer, frei von Dauerbeschallung und digitalem Lärm. Jungscharlager mit Schnitzeljagd und Würstl grillen am Lagerfeuer, Fußballturniere, die am Vormittag begannen und erst spät Nachts unter Flutlicht – verschwitzt aber glücklich endeten. Tischtennis spielen, Springschnur springen, Trumpfkarten sammeln und Yps Hefte lesen. Um die wette laufen, weitspringen oder die komplette Hitparade im Radio wegen nur einem Lieblingslied hören. Ich erinnere mich wie ich in der Nacht meine Inlineskates anschnallte und vor dem Haus auf der Hauptstraße, wie der Typ in Airborn, meine Runden drehte. Es war die Zeit der Liebesbriefe und aufregenden Übernachtungen, des Radfahrens, Tipp-Kick-Spielens und Wasserbombenwerfens. Es ging ohne Klimaanlage nach Kroatien, wo wir mit einer kleinen Angelschnur versuchten, einen Fisch zu fangen. Danach Heuhupfen bei Oma am Bauernhof, Kühe füttern, Katzengold suchen und auf der alten Reifenschaukel am großen Baum schaukeln. Die Welt war eine einzige Spielwiese. Vielleicht ist es auch nur der Charme der vergangen Zeit und der vergangenen Jugend doch gefühlt war früher alles einfacher und echter. Es zählte nicht was man hatte sondern wer man war. Man war mit wenig zufrieden und voller Vorfreude, wenn am nächsten Tag die Sonne wieder aufging und man hinaus konnte.
Heute steigt man in eine U-Bahn oder Straßenbahn – egal in welcher europäischen Stadt – und sieht 85% der Menschen ausdruckslos auf ihre Smartphones starren. Geräte, die uns suggerieren, was wir als nächstes brauchen, um angeblich glücklicher zu sein.
Der Konsum steht über allem. Ich wünschte mir eine Gesellschaft, deren Erfolg nicht danach bemessen wird, wie viel sie besitzt – sondern wie viel sie gibt. Wie hilfsbereit sie ist. Eine gute Gesellschaft wäre das, was dieser von Kriegen gebeutelte Erdball aktuell benötigt. Leider sind die großen Weltpolitiker als auch die großen Tech Player keine Vorbilder mehr, sondern alte, weiße, machtgierige Männer ohne jegliche Empathie. Aller Anstand scheint verloren gegangen zu sein – was zählt ist nur die nächste schnelle Milliarde. Gefühlt war die Welt noch nie so ungerecht wie heute. Die Vermögen einzelner steigern sich ins Unermessliche und werden kaum für gute, geschweige denn humanitäre Zwecke verwendet. Im Jahr 2025 zu leben hat nur noch wenig mit einem 1992 oder 1998 zu tun. Es fühlt sich an, als hätten die Menschen ein Stück ihrer Seele verloren. Vielleicht glorifiziere ich die Jugend von damals wie den Blick durch das Kaleidoskop aber dieses völlig entschleunigte Leben vor dem Internet hatte ungleich mehr Tiefe und davon könnten wir in unserer digitalen, konsumgetriebenen Welt dringend mehr gebrauchen.
Bescheidenheit ist der Anfang aller Vernunft
Ludwig Anzengruber
