Der Schweiß tropft von meiner Stirn auf meinen Unterarm. Es ist ein befriedigendes Gefühl, eine Art Wertschätzung meines Körpers, dem ich seit 40 Minuten einiges am Crosstrainer abverlange. Der kurze Griff zur Wasserflasche wirkt automatisiert, genau wie die asynchronen, kraftvollen Bewegungen meiner Arme und Beine. Mein Blick ist fokussiert und wechselt von den roten Ziffern am Display, die mir viel zu viele Informationen liefern und mich meist überfordern, in die nahe Ferne. Durch eine riesige Glasfront vor mir, sehe ich von oben herab auf ein Außenbecken einer Therme. Es hat 38 Grad und dampft in der kalten Jahreszeit unentwegt vor sich hin. Rund 20 Menschen und deren Köpfe finden darin Platz. Die Szenen die sich darin abspielen sind vielfältig und dubios. Es sind meist 15 Minuten lange Episoden, ehe die alten Darsteller den Ort verlassen und die neuen, schwimmend das Rampenlicht betreten. Es fühlt sich an wie der Blick auf das Spiegelbild unserer Gesellschaft oder das bittersüße Antlitz unserer Welt aus der Distanz. Wie ein Astronaut, der zum ersten mal vom Weltall aus die Erde sieht und plötzlich zu verstehen beginnt, wie beschränkt und klein doch der Mensch ist.

Ein älterer Mann um die 70, dessen ganzer Körper sehr steif wirkt, steht in der Mitte des Beckens unter einem kleinen Wasserfall und lässt sich das heiße Schwefelwasser auf seinen Kopf plätschern. Plötzlich beginnt er sich nach vorne zu beugen und Kraulbewegungen mit seinen Armen durchzuführen. Seine Beine bewegen sich dabei kein bisschen. Lediglich sein Kopf dreht sich mit seinen Armen mit, als wäre er gerade mitten in einem Wettkampf. Der Anblick wirkt als Außenstehender auf den ersten Blick abstrus, als würde ein verwirrter, alter Mann versuchen, in der Luft zu schwimmen. Auf den zweiten Blick scheint er aber glücklich zu sein, wie in Gedanken versunken – als fühlte er sich wieder 50 Jahre jünger und würde gerade in seiner Welt eine Länge nach der andere im Sportbecken ziehen. So wie früher. Er lächelt dabei vor sich hin und ich freue mich für ihn. Eine älteres Pärchen hinter ihm beobachtet die Szene und beginnt die Köpfe ungläubig zu schütteln und sich über den Herren lustig zu machen. Sie sehen in dem Mann nur den Verrückten, weiter nichts und suchen im Becken nach weiteren zustimmenden Gesichtern, die sie auch umgehend finden. So ist die Welt. Kurzsichtig und viel zu schnell urteilend. Szenenwechsel.

Ein junges Paar sitzt sichtlich verliebt im Becken. Keine zwei Sekunden halten sie es getrennt voneinander aus. Die Anziehung ist deutlich spürbar – es folgen sanfte Küsse und noch zärtlichere Blicke, die unverkennbar sagen, dass man einander liebt. Es wird gelacht, man genießt jede Sekunde, die beiden sind ein Herz und eine Seele. Ihnen gegenüber ein weiteres Paar im ähnlichen Alter. Sie wirkt interessiert und schenkt ihm deutlich mehr Aufmerksamkeit als sie zurückerhält. Er interessiert sich mehr für seinen durchtrainierten Körper und für die bestmögliche Darstellung desselbigen. Er posiert lachend in seltsamen Posen, als möchte er alle wissen lassen, wer der König dieses Beckens ist. Hier funkt genau gar nichts, es ist ein trauriges Schauspiel, ein Stück, verfasst von jugendlicher Oberflächlichkeit. Es sind zwei Paare, die unterschiedlicher nicht sein könnten und mir zeigen, wie verschieden die Menschen doch sind und wie wertvoll es ist, jemanden zu haben, der einem genauso viel bedeutet wie umgekehrt. Szenenwechsel.

Eine neue Charge an Darsteller hat das Becken betreten. Es gibt niemanden der verliebt zu sein scheint, niemanden der Eindruck schindet, niemanden der lacht oder etwas zu sagen hat. Es wirkt als wären alle tot. Wie Roboter mit gelangweilten, emotionslosen und müden Gesichtern. Es ist schwer diesen Anblick zu ertragen – schlummert doch bestimmt so viel Potential in diesen Köpfen. Ich frage mich, warum sie so geworden sind und urteile pauschal und gleichermaßen traurig, dass sie das Leben wohl müde gemacht und ihnen die Freude genommen hat.

Eine weitere Schweißperle tropft auf meinen Arm und holt mich zurück in die Realität. Das Schauspiel hat mir wieder einmal zu denken gegeben, wie jedes mal wenn man so einen ungeschminkten Blick aus der Distanz erhält. Wie klein wir doch alle sind und wie wichtig wir uns und unsere Probleme immer nehmen. Wie ich wohl selbst über mich urteilen würde, wäre ich einer dieser Darsteller? Welche Rolle würde ich spielen? Ich habe keine Antwort darauf aber vielleicht wäre ich einer der Toten, einer der Verliebten oder doch der verwirrte alte Mann.

Es ist ein trauriges Schauspiel, ein Stück, verfasst von jugendlicher Oberflächlichkeit.

Jürgen Koller

Sag mir was du denkst

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>