Wenn man im Osten Österreichs wohnt, hat man bestimmt schon mal die Aussage „der is jo deppat“ vernommen. Im Grunde ist dies eine subjektive Beurteilung einer anderen Person, die sich anders verhält als man es gewohnt ist oder erwartet. Wer bestimmt allerdings was „normal“ ist? Ich muss gestehen, dass ich den Begriff der „Normalität“ noch nie groß hinterfragt habe. Es gibt im Leben einfach bestimmte Erwartungshaltungen und gesellschaftliche Normen, mit denen man aufwächst, die einem beigebracht werden – und an die man sich, aus welchen Gründen auch immer, hält. Nachdem ich mich gestern etwas mit Michel Foucault beschäftigt habe, laufen meine Synapsen auf Hochtouren. Foucault war Philosoph, Historiker und Querdenker und war der Meinung, dass Normalität kein objektiver Zustand ist, sondern etwas, das von der Gesellschaft produziert wird.
Die Norm ist nicht neutral.
Michel Foucault
Sie ist ein Werkzeug, um Menschen zu vergleichen, zu bewerten – und letztlich zu disziplinieren.
Diese These hat mich beeindruckt und mich die ganze Nacht lang beschäftigt. Normal ist also nichts Natürliches oder Objektives. Es ist ein von der Gesellschaft erzeugter Maßstab oder ein Raster. Wer nicht hineinpasst wird entweder angepasst oder aussortiert, in dem man die Person mit Begriffen wie „nicht normal“, „seltsam“, „deppert“ oder gar „krank“ tituliert.
Wie sich die Normalität verändert
Wirft man einen Blick zurück, findet man zahlreiche Beispiele dafür, wie sich dieser Raster der Normalität über die Zeit hinweg verschoben hat.
- Im Mittelalter galten Frauen mit roten Haaren als Hexen, wurden verfolgt und verbrannt – nicht weil sie gefährlich waren, sondern weil sie nicht ins damalige Bild der Normalität passten. Heute sind Frauen mit roten Haaren normal oder gelten gar als besonders schön. Die Frauen haben sich nicht verändert – die Normalität hingegen schon.
- Bei Menschen mit epileptischen Anfällen meinte man früher, sie wären von Dämonen besessen oder von Gott bestraft. Später wurden sie als psychisch krank eingestuft. Heute spricht man von einer neurologischen Besonderheit.
- Unruhige Kinder galten früher als besonders aufgeweckt und auch kreativ. Heute erhalten sie oftmals die Diagnose ADHS, nicht weil sie „krank“ sind sondern weil sie in einem System, das auf Ruhe, Ordnung und Anpassung ausgelegt ist, störend wirken. So werden sie manchmal auch medikamentös beruhigt oder wie Foucault es sagen würde – normalisiert.
Die Aufklärung hat die Menschen und die Normalität natürlich ganz klar verändert. Alte Denkmuster wurden hinterfragt und zum Glück auch durchbrochen. Gesellschaften entwickeln sich aber auch heute nach wie vor weiter. Wissenschaftler oder Mediziner forschen und finden neue Dinge die ihnen „seltsam“ erscheinen, die heute noch gar kein Thema sind aber morgen vielleicht einen Namen erhalten und mit denen man dann nicht mehr als „normal“ gilt.
Wenn wir also darüber nachdenken was Normalität ist, sollten wir uns bewusst machen, dass wir nicht über absolute Wahrheiten sondern über Gesellschaftliche Konstruktionen sprechen die sich verändern. Was heute als normal gilt, war es gestern vielleicht nicht und wird es morgen womöglich auch nicht mehr sein. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht jede Handlung, die nicht in die Erwartungshaltung anderer passt, automatisch falsch oder gar schlecht ist. Ganz im Gegenteil. Künstlerische Persönlichkeiten die man im Alltag sofort als verrückt bezeichnen würde, werden sogar gefeiert und bewundert wenn sie tolle Werke kreieren. Plötzlich ist die Person nicht mehr „deppert“ sondern ein Genie. Dasselbe Verhalten wird also plötzlich völlig unterschiedlich bewertet.
Normalität hinterfragen
Foucault hat mir bewusst gemacht, dass man die Dinge und den Status Quo immer hinterfragen sollte und nicht vorschnell über jemanden urteilen sollte, nur weil er sich anders verhält als wir es gewohnt sind. Wir sollten es vielleicht sogar begrüßen und wertschätzen, wenn wer die Gesellschaftliche Normalität durchbricht. Denn wenn alle gleich denken und gleich handeln bedeutet das in gewisser Weise auch Stillstand. Ich bin mir sicher, dass wirkliche Veränderung, Kreativität und Fortschritt erst dann entstehen wenn man den Mut hat anders zu sein. Die Normalität zu hinterfragen wie es damals Foucault getan hat, ist vielleicht ein erster wichtiger Schritt dazu. Am schönsten hat es wohl van Gogh formuliert.
Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.
Vincent van Gogh
